Ein
Wunder
An
einem Samstagnachmittag im Frühsommer sah ich nach der Rückkehr vom Spaziergang
einen kleinen Spatzen in der Hofeinfahrt liegen – das Köpfchen blutig und nur
noch schwach atmend. Er war wohl aus dem Nest in der Dachrinne des Nachbarhauses
gefallen.
Ich trug ihn in den Garten und versuchte, ihm ein wenig lauwarmes Wasser mit
einem Teelöffel vorsichtig einzuflößen. Er trank. Daraufhin bot ich ihm
eingeweichte zarte Haferflocken, ebenfalls lauwarm, an, doch diese wollte er
nicht annehmen.
Ich
erinnerte mich der begeisterten Erzählungen eines Nachbarn von den
verschiedenen Vogelarten in seinem Garten und beschloss, ihn um Rat zu fragen.
Den Spatzen setzte ich in eine kleine Blechschüssel, die ich, da es sehr warm
draußen war, mit einer Bodendecke Wasser füllte, damit er trinken und sich
erfrischen konnte.
Der Nachbar konnte mir nicht weiterhelfen, verwies mich jedoch an einen anderen
Nachbarn, einen Hobby-Ornithologen. Dieser war leider nicht zu Hause.
Als ich heimgekehrt war, sah ich, dass sich der Zustand des Spatzen noch verschlechtert
hatte. Durch meine Laufbewegung war er nass geworden und zitterte. Ich hüllte ihn in ein Handtuch und trocknete ihn behutsam ab. Dann rief ich beim Tierheim
an. Man nannte mir die Namen zweier Frauen, die Fundtiere aufnehmen. Die eine
davon bot mir an, sogleich mit dem Spatzen bei ihr vorbeizukommen.
Als ich eintraf, stand sie bereits vor ihrem Haus mit einer Volière, in der ein
etwas größeres Vögelchen saß. Während sie den Spatzen zu ihm setzte, fing das
größere Vögelchen an zu zwitschern, worauf der Spatz einen Flügelschlag machte.
Dies war einer der glücklichsten Augenblicke meines bisherigen Lebens.
Die Frau beabsichtigte, eine Wärmflasche zu machen und sogleich mit dem Füttern einer Spezialnahrung zu beginnen. Wir vereinbarten, dass ich sie am nächsten Morgen anrufen würde.
In der Nacht wachte ich auf und fühlte mich schuldig, dass sich der Spatz
verkühlt hatte.
Am Morgen zündete ich eine Kerze an und betete für ihn. Ich sprach auch zu ihm
in Gedanken und sagte ihm, dass die Kerze sein Lebenslicht sei und er doch
bitte leben solle.
Mit klopfendem Herzen rief ich die Frau an. Sie sagte mir ruhig und feierlich,
dem Spatzen ginge es gut, sie habe ihn am Vorabend noch bis halb elf Uhr
gefüttert, und nun sitze er schon wieder auf ihrer Schulter und bettle um
Nahrung. Ich war sehr glücklich.
Zehn Tage später rief ich sie wieder an und sie sagte mir, es ginge ihm
weiterhin gut, doch, verglichen mit den anderen Spatzen in ihrem Garten, sei er
nur halb so groß, so dass sie ihn noch bei sich behalten müsse.
Wenige Wochen später rief sie mich an und sagte mir, sie habe ihn nun fliegen
lassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen